Unser stetiger Alltagsbegleiter: Stress

Unser stetiger Alltagsbegleiter: Stress –

Der wenig populäre Außenseiter unserer Empfindungen

Kaum einer mag ihn und die meisten von uns wollen ihn sogar einfach nur loswerden. Und für die WHO, die Weltgesundheitsorganisation, ist er das derzeit größte Gesundheitsrisiko unser Zeit. 

Aber was, wenn der Stress gar nicht das Problem ist, sondern lediglich unser Umgang damit?

Grundsätzlich: Stress ist nichts Schlechtes, wir erleben ihn allerdings meist als Belastung und vergessen gerne, dass er uns anspornt, uns motiviert, Ziele zu erreichen, und uns Höchstleistungen vollbringen lässt. Wie kann das eigentlich sein, dass etwas uns so krank machen kann und gleichzeitig solche Superkräfte in uns weckt?  

Eine 2020 durchgeführte Studie in 122 Ländern legt die Vermutung nahe, dass unser gefühltes Stresslevel stetig ansteigt. Mittlerweile klagt fast jeder Zweite über Stress. Dabei ist Stress nichts Neues. Geht man in unserer menschlichen Geschichte einmal weiter als ein paar tausend Jahre zurück, waren die Stress-Trigger viel aggressiver und bedrohlicher, damit auch ungleich schlimmer. Denn in jeder Sekunde ging es vor allem für Jäger und Sammler ums nackte Überleben. Das ist heute glücklicherweise nicht mehr der Fall, dennoch stecken die Denk- und Verhaltensmuster von 120.000 Generationen tief in uns und prägen somit bis heute unsere Reaktion auf Stress-Trigger. 

Unsere heutige digitalisierte Welt, an die wir uns wohl oder übel anpassen müssen, ist gerade einmal zwei Generationen alt, gleichzeitig sind viele Muster, Reaktionen und Antworten auf Stress-Situationen noch aus der Steinzeit und passen deshalb nicht so recht in unseren Alltag. 

Genau diese „Programme“ in unserem Kopf sicherten früher unser Überleben: Innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde werden all unsere Kräfte mobilisiert – durch ein hormonelles Feuerwerk in unserem Nervensystem. Das ausgeschüttete Adrenalin beschleunigt unsere Herzfrequenz, öffnet die Lungenbläschen und aktiviert unseren Körper so, dass wir schneller reagieren können. Diese mitreißende Reaktion auf Stress hat jeder schon einmal erlebt, man nennt sie Kampf-oder-Flucht-Reaktion. Heute ist es nicht mehr der Säbelzahntiger, es reicht bereits Unlust, um unser Stressnetzwerk zu triggern. Die primäre Antwort auf den Stress ist unser Kampf-oder-Flucht-Programm.

Ausgangspunkt hierfür ist unsere Nebenniere, die bereits bei Unlust und als stressig empfundenen Situationen Stresshormone wie Cortisol ausschüttet. Gleichzeitig wird Adrenalin im Köper freigesetzt. Dieser Hormon-Boost versetzt uns in Alarmzustand und lässt uns kurzzeitig schneller reagieren als im Normal-Zustand.

Das Problem: Wir kommen heute nur selten in lebensgefährliche Situationen, allerdings ist unser Alltag übervoll mit  kleinen Dingen, die uns permanent stressen, wie zum Beispiel verspätete Züge, überfüllter E-Mail-Posteingang oder auch Hiobsbotschaften aus aller Welt.  Unser Körper reagiert darauf, als ob die verpasste Deadline ein Säbelzahntiger wäre und uns gleich aufrisst. 

Was dazu führt, dass unsere eigentlich auf kurzzeitige Bedrohung ausgelegte Stressverarbeitung ständig auf Hochtouren läuft. Ohne Unterlass. Und ohne weglaufen zu können.

Stress macht krank, wenn wir ihn nicht mehr unterbrechen können und uns ihm ausgeliefert fühlen. 

Erst Ruhepausen erlauben es uns, den in unserem Blutkreislauf angestauten Stress in Form von Stress-Hormonen abbauen zu können. Womit unserer mentalen Stärke eine besondere Bedeutung zukommt, um eine ganz eigene, gesunde Balance zwischen Anspannung und Entspannung zu finden. 

Wem das nicht gelingt oder wer diese wissenschaftlichen Erkenntnisse als Hokuspokus abtut, der trinkt und raucht oft mehr, kämpft nicht selten mit Schlafstörungen oder gar Depressionen und füllt jede Sekunde der Ruhe mit Ablenkungen. Weshalb die WHO chronischen Stress als Grund für ein Drittel aller gesellschaftlichen Erkrankungen nennt und als Ursache für ca. 160 Millionen psychiatrische Erkrankungen pro Jahr, alleine in der EU.

Und selbst wenn man seine Balance gefunden hat, kann einen Stress befallen. Denn unsere angeborene Empathie sorgt dafür, dass Stress sogar ansteckend ist, wenn wir einer gestressten Person oder Gruppe nahekommen. Denn bereits kleine Nervositäts-Signale unseres Gegenübers sorgen dafür, dass unser eigener Cortisol-Spiegel automatisch ansteigt.

Eine Welt ganz ohne Stress wäre allerdings nicht so verlockend, wie es klingt … 

Denn wir würden sehr sehr lange schlafen, uns antriebslos, müde und ohne Power durch die Tage schleppen und nichts mehr auf die Beine stellen.

Hans Selye, der Urvater der Stressforschung, der den Begriff Stress vor 90 Jahren etablierte und neben 1700 Arbeiten an 43 Büchern über Stress mitgeschrieben hat, beschrieb Stress auf neurobiologischer Ebene, als eine unspezifische Reaktion des Köpers auf jegliche Anforderung. 

Was so viel bedeutet wie, dass der Stresshormonspiegel, den wir in einer Druck-Situation aufbauen, weder gut noch schlecht ist. Er ist einfach. Entscheidend ist, was daraus wird – Distress oder Eustress. 

Ersteres ist negativer Stress. Bei Distress nehmen die Betroffenen die Stresssituation als Hindernis wahr, sie fühlen sich überfordert, weshalb die Motivation und das Engagement sinken, während gleichzeitig Ängste, Sorgen und Anspannungen wie auch negative Gedanken zunehmen. 

Eustress hingegen ist positiver Stress. Die Betroffenen nehmen ihre Stresssituation als inneren Motor wahr, der dazu  antreibt, Herausforderungen anzunehmen und daran zu wachsen, was meist sogar als reizvoll empfunden wird. Motivation und Engagement steigen, was uns sogar gesünder sowie leistungsfähiger macht. 

Im Arbeitskontext bedeutet dies, dass das Arbeitsklima, die Stimmung innerhalb eines Teams oder einer Abteilung, Einfluss darauf hat, wie erschöpfend die Mitarbeitenden ihre Arbeit empfinden und welche Ergebnisse erzielt werden. Ein wichtiger Faktor dabei ist, sich optimal gefordert zu fühlen. Fehlt es an Herausforderungen, führt das zu Langeweile und Unzufriedenheit, was sich ähnlich auswirkt wie eine Überforderung durch negativen Stress.

Es kommt also darauf an, wie wir dem Stress begegnen, diesen wahrnehmen und welche persönlichen Ressourcen wir mental zur Verfügung haben. Gelingt eine passende Balance zwischen Anforderungen und Fähigkeiten, sprechen Psychologen vom Flow-Zustand. Manche Menschen können ihre Bestleistung auch in wandelvollen Rahmenbedingungen abrufen und darin voll und ganz aufgehen. 

Kling einfach, allerdings sind Distress und Eustress im Alltag nicht so leicht voneinander zu unterscheiden. Denn wir nehmen Stresssituationen unterschiedlich wahr und zudem variiert unser Stressempfinden abhängig davon, wie wir uns gerade fühlen. So kann eine neue Arbeitsaufgabe spannend sein und den Selbstwert stärken (Eustress). Kommt sie jedoch in einem Moment, in dem wir uns mit Aufgaben überlastet fühlen, schlägt die Wahrnehmung ins Negative um (Distress). 

Weil die Übergänge so unscharf und fließend sind, unterscheiden Forschende oft nicht mehr zwischen Eustress und Distress. Die Unterscheidung hilft uns jedoch dabei, ein gutes Stressmanagement und Gespür für die Situation und uns selbst wie auch für unser Gegenüber aufzubauen.

Stress ist eine Entscheidung, eine Kopfsache. 

Wir sind unseren hormonell gesteuerten Programmen nicht hilflos ausgeliefert. Entscheidend ist es, wie wir uns mental zu einer Situation verhalten. 

Wichtig hierbei ist die Konzentration, denn die Aussicht auf Erfolg beruhigt uns sofort, wodurch wir uns der Aufgabe eher gewachsen fühlen und so leichter Handlungen anstoßen können, durch die wir die Aufgabe bewältigen oder das Problem lösen. So erleben wir unsere Selbstwirksamkeit. 

Das kann bis hin zum Flow führen, der sozusagen das Sahnehäubchen einer positiven Stresserfahrung ist. 

Die Entscheidung, wie wir auf Stress-Trigger reagieren, ob wir flüchten oder eine Herausforderung annehmen, trifft unser Unterbewusstsein völlig automatisch. Einerseits sind diese Programme genetisch bestimmt und andererseits durch Prägung, auf die wir aktiv Einfluss nehmen können durch Reflexion und mentale Neukonditionierung. Denn mit bewusst wahrgenommenen Erfahrungen und Erfolgen justieren wir unsere Stressraster nach und werden selbstsicherer, mutiger und resistenter. Was es uns leichter macht, zwischen wirklich bedrohlichen und nur nervigen Stressoren zu unterscheiden.

Wer Stress generell negativ einschätzt, spürt auch negativen Stress deutlich stärker als diejenigen von uns, die gelassener mit Stress umgehen. Womit es einmal wieder um die eigenen Einstellung, unser Mindset geht. Höchste Zeit, dieses zu korrigieren, denn Stress ist ein wesentlicher Teil unseres Lebens. 

Die gute Nachricht: Unser Gehirn ist neuroplastisch, was bedeutet, dass es sich ständig erneuert, egal wie alt man ist. Somit können wir durch mentales Coaching und/oder Training neue Stress-Programme implementieren, um die alten zu überschreiben. Wobei ein gelassenerer Blick wahre Wunder wirkt. 

 

Inspiration:
Brauchen wir mehr Stress / Ausgestrahlt: arte / Herkunft: NDR 2023 / Regie: Thomas Kulik.